Ich sage es direkt, wie es ist: Wenn ihr nur ein Buch zum Thema Elternschaft lesen wollt, lest „Nicht zu streng, nicht zu eng“! Warum? Das erkläre ich euch gerne.
Zugegebenermaßen waren meine Erwartungen an meinen persönlichen Lernzuwachs relativ gering. Bin ich doch Erzieherin, dreifache Mutter und Familienberaterin. Umso mehr hat es mich überrascht, wie sehr mich „Nicht zu streng, nicht zu eng“ zum Nachdenken angeregt hat.
Nicht zu eng, nicht zu streng, sondern …
Zunächst werden im ersten Viertel des Buches der Bindungsbegriff, dessen Bedeutung für die Begleitung von Kindern und verschiedene Erziehungsmodelle wirklich gut verständlich erklärt. Hierbei fällt schnell auf, mit welcher Wertschätzung gegenüber allen Erziehenden Inke Hummel schreibt. Wer sie kennt, bemerkt dies direkt in ihrer Art. Auch beim Lesen kann man in ihren Worten nichts als Verständnis und Mitgefühl finden. Es ist ein immer wiederkehrendes Plädoyer gegen das Be- und Verurteilen und für den milden Blick aufeinander.
Wenn sich jemand die Mühe machte, die Wörter und ihre Häufigkeit in „Nicht zu streng, nicht zu eng“ zu zählen, würde sicher auffallen, dass diese Worte besonders oft fallen: wahrscheinlich, womöglich, vielleicht, vermutlich, eventuell. Das ist wichtig und wird auch immer wieder klar gestellt: Kein Kind wird durch bestimmte Erziehungsmethoden zwingend geschädigt, noch garantiert ein bindungsorientiertes Begleiten Erfolge. Es ergeben sich erhöhte Wahrscheinlichkeiten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Du musst nicht deshalb genauer hinschauen, um tausend Dinge richtig zu machen. Und nicht um jede Situation perfekt zu lösen. Sondern um Sicherheit zu gewinnen für den #gutgenug-Weg.
Inke Hummel* – Nicht zu streng, nicht zu eng
So macht Inke Hummel durchgehend klar: Ein schlechtes Gewissen ist fehl am Platz, wenn du nicht immer deinen Idealen entsprichst. #GutGenug reicht völlig! Auch wird mehrfach betont, dass lediglich ein dauerhaftes (gerne mit Ausrufezeichen im Text verstärkt) herrisches oder abwesendes Erziehungsverhalten sich ungünstig auf das Kind auswirkt (siehe S. 19 u.a.). Und gleichzeitig zeigt sie auf, warum es dennoch sinnvoll ist, den bindungsorientierten Weg, die Gratwanderung zwischen zu streng und zu eng, zu wählen.
Wie „Nicht zu eng, nicht zu streng“ funktioniert
Das Herzstück des Buches stellen die Beispielsituationen dar, in denen die Lesenden den schüchternen Elias und die wilde Marie ein Stück ihres Lebens begleiten. Während ich im ersten Moment dachte, es wäre geradezu langweilig, immer wieder sich fast gleichende Textbausteine zu lesen, merkte ich, dass genau das so wichtig ist! Gucken wir genau hin und überlegen anhand von Inke Hummels Fragestellungen, was das Kind braucht und wie z.B. die überfürsorglichen oder herrischen Eltern im Beispiel agieren, stellen wir fest, welchen Einfluss unser Verhalten auf das Kind haben kann. Erst durch dieses intensive Reindenken wurde mir Vieles klarer.
Gleichzeitig werden so Vorurteile nachvollziehbar aufgeklärt. Im Abschnitt „abwesende Eltern“ beim schüchternen Elias (S.74) wird z.B. sehr deutlich, dass das bloße Übertragen von Aufgaben auf das Kind nicht zu mehr Selbstständigkeit, sondern eher zu Unsicherheit und der Unfähigkeit, um Hilfe zu bitten führen kann. Ich glaube, dadurch, dass es nicht theoretisch bleibt, wird es auch dir leichter fallen, dich darein zu versetzen.
Beziehungsschlüssel und Sicherheit
Im letzten Teil des Buches lernst du die Beziehungsschlüssel und wertvolle Leitsätze kennen, die dich durch den Alltag begleiten können. Außerdem vergisst Inke nicht, dass Kinder nicht nur in Beziehung zu der Person stehen, die das Buch* liest, sondern nimmt ganz genau auch das Umfeld (KiTa, Schule, Famliie, Partner_in) mit in den Blick.
Inke Hummels „Nicht zu streng, nicht zu eng“ ist ein Mutmacher und Ideengeber. Inke nimmt dich an die Hand und sagt dir: Trau dich, geh diesen Weg, auch wenn er Kraft kostet und du stolperst. Du schaffst das! „Du musst nicht deshalb genauer hinschauen, um tausend Dinge richtig zu machen. Und nicht um jede Situation perfekt zu lösen. Sondern um Sicherheit zu gewinnen für den #gutgenug-Weg.“ (S. 193) Denn „deine Sicherheit im Begleiten und Loslassen wird die Sicherheit deines Kindes in der Bindungssuche und im Erobern der Welt.“ (S. 139)
Dieses Buch ist für…
- werdende Eltern, die sich auf die Begleitung ihres Kindes vorbereiten wollen.
- diejenigen, die gerade mitten im Abenteuer Familie mit kleinem/n Kind(ern) stecken.
- Eltern größerer Kinder, die etwas unsicher auf die ersten Jahre mit Kind(ern) zurückblicken.
- Menschen, die sich selbst besser verstehen wollen.
- pädagogisches Personal in jedem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.
Wie bereits eingangs geschrieben: „Nicht zu streng, nicht zu eng“ ist in meinen Augen das eine Buch, welches alle Menschen, die mit Kindern leben oder arbeiten lesen sollten. Eine solch intensive Auseinandersetzung hätte ich mir in meiner Ausbildung vor über zehn Jahren gewünscht! (Mit dem Transfer der Beispielsituation auf typische Situationen in der Kinderbetreuung.)
Meine persönliche Empfehlung für Eltern größerer Kinder wäre, sich zunächst den Kasten auf Seite 128 durchzulesen. Dann kannst du hoffentlich mit einer zusätzlichen Versicherung, dass Schuldgefühle nicht nötig sind, in die Arbeit mit „Nicht zu streng, nicht zu eng“ gehen. Denn „mit einem schlechten Gewissen kommst du nicht weiter“ (S. 32).
Das macht „Nicht zu streng, nicht zu eng“ besonders
Gute Elternratgeber vermitteln Wissen leicht verständlich. Die noch besseren gehen in die Praxis und geben alltagsnahe Tipps. Inke Hummel schafft es in „Nicht zu eng, nicht zu streng“ darüber hinaus, dass man mitfühlt. Und dadurch kann dieser Ratgeber es schaffen, die nötigen Prozesse wirklich in Gang zu setzen. „Nicht zu streng, nicht zu eng“ kann Gesprächsstoff bieten und Einstieg sein, um bestimmte Themen weiter zu bearbeiten. An geeigneten Stellen befinden sich immer Tipps zum Weiterlesen oder Anregungen, wo man diesbezüglich Unterstützung bekommen kann. Es ist ein Arbeitsbuch, was zur tiefen Auseinandersetzung einlädt und somit sicher für zahlreiche Familien eine große Hilfe sein wird.
Wie bereits bei den anderen humboldt Ratgebern von Inke Hummel muss ich auch hier wieder das Layout loben. Ich habe es bei meiner Rezension zu „Miteinander durch die Pubertät*“ bereits angemerkt: der auf Ratgeber spezialisierte Verlag versteht es, gut leserliche und ansprechende Bücher zu gestalten. Für Eltern mit teils beschränkter Aufmerksamkeitsspanne (durch Müdigkeit oder ablenkende Kinder) ein wichtiger Faktor.
Die Autorin Inke Hummel
Inke Hummel ist Autorin, Pädagogin und Inhaberin der Familienbegleitung „sAchtsam Hummel“ und Bloggerin. Als pädagogischer Coach unterstützt sie Familien im ersten Babyjahr, in der Kindergarten- und Grundschulzeit sowie in der Pubertät. Besonders häufig begleitet sie Eltern mit schüchternen oder gefühlsstarken Kindern (der Begriff wurde in Nora Imlaus „So viel Freude, so viel Wut*“ geprägt) und verhilft ihnen zu einer gelungenen Eltern-Kind-Bindung. Im Verein Bindungs(t)räume setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagog_innen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Inke Hummel ist verheiratet und hat drei Kinder im Teenageralter.